Glauben heißt nicht wissen

Wenn ich über Glauben und Wissen rede, dann denken Viele an einen Gegensatz. Für mich ist das eine die Ergänzung zum anderen. Ich vergleiche glauben und wissen gerne mit gehen und laufen. Natürlich kann man nicht gleichzeitig gehen, wenn man läuft. Aber ich kann gehen und ich kann laufen; ich kann sogar entscheiden, ob ich gehe oder laufe. Wer nur geht, bleibt nicht auf dem Laufenden, wer nur läuft, dem entgeht etwas. Mein Glaube ist eine andere Möglichkeit, ein Problem zu bewältigen, wozu mein Wissen nicht ausreicht – oder eben auch umgekehrt.

Mich beschleicht bei Menschen, die felsenfest überzeugt sind, ihre Forderungen beruhten auf Wissen, das Gefühl, das sie sich irren. Früher wandten sich alle Menschen mit ihrem „Gib, gib, gib!“ an den lieben Gott, heute wenden sich die Bürger an Vater Staat mit demselben „Gib, gib, gib!“.

Das kann mit Geld zu tun haben: Treibstoff soll wegen des CO2-Ausstoßes teurer werden, schon erhebt sich der Anspruch an den Staat, für Ärmere einen Ausgleich zu schaffen. Die Schadstoffe sind aber doch nicht weniger schädlich, weil der Staat das Benzin bezahlt. Die Forderung kann nichts mit Wissen zu tun haben, sondern nur mit dem Glauben, jeder müsse ein Auto fahren dürfen.

Ansprüche können auch mit dem Gefühl zu tun haben: In der Pandemie waren wir alle auf unser engstes Leben geworfen. Das muss für Viele eine so schreckliche Erkenntnis über sich gewesen sein, dass sie „endlich“ das Ende der Eindämmungsmaßnahmen fordern, um wieder uneingeschränkt shoppen, reisen und feiern zu können. Dieser Anspruch scheint nur auf Wissen gegründet, denn die Pandemie ist nicht beendet und wir wissen inzwischen aus eigener Erfahrung, was den Lockerungen folgt. Für mich ist dieses „Gib Freiheit“ tatsächlich der Glaube, dass das Leben vor den Einschränkungen „normal“ gewesen sei und Shoppen, Reisen und Feiern zum Leben dazu gehörten. Die Mehrheit der Weltbevölkerung würde dem widersprechen, denn ihr Leben ist nicht so geprägt.

Mich wundert besonders, dass die Menschen meinen, der Staat könne ihre Wünsche erfüllen. Der Staat äußert sich ausschließlich in Rechtsetzung (Legislative), Rechtsprechung (Judikative) und Rechtsanwendung (Exekutive). Es ist nicht möglich, dass jemand per Gesetz oder Urteil oder Verwaltungsakt ein gutes Leben hat. Ein Grundrecht auf Shoppen, Reisen und Feiern oder auf „Bloß weg von mir und meinem Leben ohne …“ gibt es nicht. Mir scheint, den Staat als Ansprechpartner seiner Ansprüche zu sehen, nicht weniger gläubig, als sich an Gott zu wenden.

Was heißt schon Wissen? Vor der Spätantike, als die Menschen noch an viele Götter glaubten, wussten sie, dass die Erde eine Scheibe ist. Heute wissen viele meiner Mitbürger, dass die Erde eine Kugel ist. Aber die Erde ist weder Scheibe noch Kugel, wenn wir uns bei Wikipedia schlauer machen, um die Erdfigur zu ermitteln. Keine Scheibe, keine Kugel und sie dreht sich doch.

Sind wir möglicherweise leichtgläubiger als Menschen vergangener Zeiten? Im Mittelalter musste sich das Wissen dem Glauben unterordnen, viele bezeichen diese Zeit immer noch als „finsteres Mittelalter“, aber war es wirklich finsterer als heute? Wäre es wirklich möglich, dass viele unserer Ansprüche, die wir an den Staat stellen, zwar gut begründet sind, aber doch nicht auf Wissen, sondern auf Glaube beruhen? Das wäre auch kein Problem, wenn wir uns dessen bewusst wären, sobald wir einen Anspruch erheben oder unterstützen.

PS: Sollte ich mich nicht so klar ausgedrückt haben, mag das daran liegen, das über mir eine fette Spinne an der Decke sitzt, und ich immer wieder einen Blick nach oben werfe, ob sie sich auf meinen herzförmigen Haaransatz oder in meine Teetasse abseilt (jetzt kann ich nicht entscheiden, was schlimmer wäre … lieber Gott, lass sie den Aschenbecher treffen!)

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