Wenn ich über eine Politikerin oder einen Politiker schreiben will, dann frage ich mich, sofern er oder sie aus dem politischen Lager, dem ich nahe stehe, kommt, wie ich reagieren würde, wäre es das „gegnerische“ – sofern er oder sie aus dem politischen Lager, dem ich fern bin, was würde ich denken, wenn die Handlungen und Äußerungen aus „meinem“ kämen. Wenn ich meine, dass die Reaktion dieselbe wäre, dann kann z. B. Folgendes herauskommen:
Annalena Baerbock, die Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen, erinnert mich an Edmund Stoiber, der vor Jahren – was sage ich: Jahrzehnten – Spitzenkandidat der Union war und wohl als „Stotter-Stolper-Vogel“ in die Geschichte bundesdeutscher Wahlen eingegangen ist. So ungeschickt kann man sich doch als Kanzlerkandidat nicht benehmen – möglicherweise aber als Kanzlerinkandidatin?
Frau Baerbock vertritt eine Partei, die immer wieder für Transparenz bei den Einkünften der Bundestagsabgeordneten eintritt – und sie muss Zahlungen nachmelden. „Kann ja passieren“? Würde das auch gesagt, wenn es sich um eine Person aus dem gegnerischen Lager handelte? Auch das Bündnis 90/Die Grünen ist keineswegs bereit, Politiker anderer Parteien mit Samthandschuhen anzufassen, sondern schnell bereit, mit dem Vorwurf „systemischer Missstände“ gegen das gesamte Lage zu wettern. Frau Baerbock und ihre Partei haben doch Glück, dass offenbar andere Parteien die Vergesslichkeit oder mangelnde Übersicht der Spitzenkandidatin nicht ausnutzen.
Frau Baerbock hat einen Lebenslauf veröffentlicht, der in manchen Punkten nicht so sauber aufgestellt war, wie er hätte sein sollen. Im Arbeitsrecht hätte ein Arbeitnehmer seine Anstellung verloren, wären solche „Unebenheiten“ seines Lebenslaufs nach Abschluss des Arbeitsvertrages herausgekommen. Wenigstens hatte Frau Baerbock die Gelegenheit, ihren Umgang mit persönlichen Fakten zu verbessern.
Frau Baerbock hat ein Buch schreiben lassen und unter ihrem Namen veröffentlicht. Auf der Suche nach griffigen Formulierungen wurde der Ghostwriter fündig und Frau Baerbock veröffentlichte sie. Ob es sich um „Urheberrechtsverletzungen“ handelt, spielt für mich keine Rolle: Ich werde nicht Abgeordnete wählen, die den Bundesjustizkanzler wählen, ich erwarte, dass die Person nicht nur findig ist, bei anderen so geschickt abzukupfern, dass sie sich nicht juristisch angreifbar macht, sondern dass sie klug genug ist, eigene Gedanken auch in eigenen Worten zu formulieren (oder wenigstens formulieren zu lassen). Es sei eben kein Sachbuch oder eine wissenschaftliche Arbeit, rechtfertigt sich Frau Baerbock, ohne allerdings zu sagen, was sie denn für ein Buch hat schreiben lassen. Gibt es nur im Sach- und Fachbereich geistiges Eigentum, an dessen Früchten sich andere nicht bereichern dürfen, oder ist nicht eher das gesamte literarische Feld Tabu? Immerhin will Frau Baerbock an dem Buch verdienen und Frau Baerbock wollte damit zumindest ihre Kandidatur unterstützen. Aber ist es ein gutes Gefühl für all jene, die auf anderen Bereichen literarisch tätig sind und davon leben oder damit wenigstens Nebeneinkünfte erzielen, dass ihre Erzeugnisse Polikerinnen und Politikern zur Verfügung steht, solange sie sich nicht juristisch angreifbar machen?
Ich habe „Jetzt“ nicht zu Ende gelesen und muss gestehen, dass das aus ganz persönlichen Gründen geschah: Das Buch ist tatsächlich so geschrieben, wie Frau Baerbock plappert. Es geht mir einfach auf den Zeiger, wenn Menschen Anfang 40 sich wie Teenager benehmen und ausdrücken. Ich kann es nicht ändern: Ich bin fast 60, fühle mich so und käme nicht auf die Idee, mich jünger machen zu wollen. Vor ein paar Jahren waren Männer im „besten Alter“ zu sehen, die ihre Hosen runter- und ihre Unterhosen hochzogen – sie waren peinlich auf der Bühne und in den Straßen. Frauen im selben Alter und mit demselben Jugendwahn wecken dasselbe peinliche Gefühl, wenn sie säuselnd plappern. Entschuldigung, aber bei sowas krieg‘ ich eine Brosche an der Lippe …
Nebenbei: Wer ein wirklich gutes politisches Buch einer bundesdeutschen Politikerin lesen will, ist mit Sahra Wagenknechts „Die Selbstgerechten“ besser dran als mit Annalena Baerbocks „Jetzt“. Auch Frau Wagenknechts Schlussfolgerungen muss man nicht „mögen“ – ich hätte ihr häufig (und gern) widersprochen. Sie ist eben eine kluge Frau, die dadurch einen wesentlich besseren Beitrag zur politischen (Streit-)Kultur leistet. Dass ausgerechnet dieser Kampf für die „linke Sache“ ihr ein Parteiausschlussverfahren einbringt, ist traurige Realität des „linken Lagers“ und macht verständlich, warum Frau Baerbock dem Beispiel Frau Wagenknechts nicht folgen will – sie macht doch nicht den „Palmer“.
Frau Baerbock soll in ihrem Interview gesagt haben: „Das was Herr Laschet und Herr Merz vorschlagen, ist eine Rückkehr von vor 16 Jahren vor Angela Merkel.“ Das ist äußerst ungeschickt ausgedrückt, den „vor 16 Jahren vor Angela Merkel“ – als deren Amtszeit als Kanzlerin – war eben Gerhard Schröder und die rot-grüne Koalition. Hätte sie die Politik der CDU gemeint, hätte sie „vor 21 Jahren vor Angela Merkel“ sagen müssen, denn 2000 wurde Frau Merkel Parteivorsitzende. Oder wollte sie Angela Merkel – unabhängig davon, ob als Parteivorsitzende oder als Kanzlerin – für ihre Politik loben?
Jeder Kanzlerkandidat musste und muss sich Kritik, Spott und Häme ausgesetzt sehen – ob Helmut Kohls „Birne“, Gerhard Schröders „Haartönung“ oder Angela Merkels „Frisur“ oder Rudolf Scharpings „Radelei“ oder dass die SPD sogar drei Männer („Troika“) gegen Bundeskanzler Kohl ins Rennen schicken musste oder eben auch Edmund Stoiber. Selbstverständlich haben Bündnis 90/Die Grünen gut ausgeteilt … Jetzt müssen sie sich damit abfinden, eine Kandidatin aufgestellt zu haben, die so ungeschickt ist, dass die Wähler in den Umfragen das Geschick ihres Staates nicht in diese ungeschickten Hände legen will, sondern sich lieber nach jemanden umsieht, der wenigstens nicht so viele Fehler macht. Immerhin geht es ja doch um die Regierung und damit auch um Gesetze, die unser Leben bestimmen werden. Im Gegensatz zu früheren Wahlkämpfen kommen Kritik, Spott und Häme nicht von den anderen Kandidaten oder Parteien, sondern aus der Bevölkerung.
Bündnis 90/Die Grünen erheben den Vorwurf einer Schmutz- oder Rufmordkampagne. Selbst wenn dieser Vorwurf stimmte, müssten Bündnis 90/Die Grünen oder Frau Baerbock einer solchen Kampagne nicht begegnen können? Der grüne Umgang – gerade mit den Plagiatsvorwürfen – zeigt Mängel der Kandidatin und ihrer Partei: „Frau Baerbock nimmt selbstverständlich jede gute Idee anderer auf, um eine bessere Politik zu machen!“ – Diese Aussage hätte mich beeindruckt!