Konfrontation oder Schweigen?

Mich machen die Themen, die öffentlich breit diskutiert werden, stumm. Das liegt daran, dass ich nicht die Gefühle und Gedanken habe, die gesellschaftlich akzeptiert sind und deren Äußerung von jedem erwartet wird.

Vor ein paar Wochen wurde der Tod von Flutopfern mit Trauer, Bestürzung und anderen Gefühlsäußerungen kommentiert. Ich hatte diese Gefühle nicht: Wie alle war ich neugierig und wollte Genaueres wissen. Ob 200 Menschen ertrunken sind oder ob dieselben Menschen an Herzinfarkten, Krebs oder nach einem Verkehrsunfall sterben, lässt mich nur dann etwas empfinden, wenn ich die Menschen kenne (im weitesten Sinne). Beim Tod fremder Menschen, deren Name ich noch nicht einmal weiß, fühle ich auch keinen Verlust.

Ich habe ein sehr nüchternes Verhältnis zu Sterben und Tod. Es ist nun einmal ein Naturgesetz, dass alles Irdische vergeht. Menschen sind sterblich, also sterben sie. Ich bin sterblich, also werde auch ich sterben. Darüber kann ich nicht klagen. Leben ist kostbar, aber nicht zu erhalten.

Wenn ich Worte wie „Leben retten“, „überlebt“ usw. in den Nachrichten höre, verdrehe ich die Augen: Nein, kein Leben ist gerettet – keiner überlebt – jeder wird sterben.

Offen gestanden, kann ich noch nicht einmal mehr diese Corona-Hysterie begreifen. Wenn die Population einer Art völlig außer Kontrolle gerät, gelten Naturgesetze: Die Zahl der Fressfeinde wächst, die Nahrung wird knapp, tödliche Krankheiten verbreiten sich usw. Mir scheint, meine Mitmenschen sind verwundert, dass die Natur den Menschen wie jede andere Art (vielleicht sogar wie Mäuse oder Ratten) behandelt, und reagieren mit einem Kampf gegen die Natur. Unsere Fressfeinde haben wir so weit ausgerottet, dass sie kaum noch ins Gewicht fallen. Wir bekämpfen den „Hunger in der Welt“. Ist es nicht erstaunlich, dass dieselben Menschen, die den Kampf gegen Corona mit allen Mitteln (Eindämmungsmaßnahmen, Impfungen, Ungleichbehandlung, wenn nicht gar Verunglimpfungen von „Impfverweigerern“ etc.) aufnehmen und unterstützen, sich für Natur- und Klimaschutz einzusetzen vorgeben? Mir scheint, sie wollen ihren Lebensstil aufrecht erhalten, indem sie weiterhin auf die technischen Möglichkeiten und menschlichen Fähigkeiten setzen, und bemerken gar nicht, dass uns das zur Überbevölkerung gebracht hat. Es kommt ihnen wohl wirklich nicht in den Sinn, sich zurückzulehnen und der Natur ihren freien Lauf zu lassen. Bei der geringen Letalitätsrate von Corona ist die Art Mensch nicht einmal ansatzweise in Gefahr auszusterben – es geht also vor allem darum, die Überpopulation des Menschen zu erhalten …

„Afghanistan“ ist ein ähnliches Thema: Die Welt scheint nur dann in Ordnung zu sein, wenn wir dafür sorgen, dass die Welt nach Deutschland kommt, zumindest ins westliche Europa oder Nordamerika. Natürlich hatte auch ich gehofft, dass der Jahrzehnte lange Versuch, Afghanistan zu demokratisieren, mehr Früchte getragen hätte. Müssten wir uns nicht mit der – doch auch nicht ganz unerwarteten – Situation konfrontieren, dass das, was schon vor dem Einmarsch sowjet-russischer Truppen begann, sich nun vollendet? Die Erkenntnis kann doch nur lauten: Freiheit lässt sich nicht schenken, sie muss errungen werden – ob friedlich oder kämpferisch, hängt von den betroffenen Menschen und den Verhältnissen ab. Jetzt fliegen wir genau die Menschen aus Afghanistan aus, die diesen Kampf führen könnten. Es geht mir nicht darum, dass die Flüchtlinge im Kampf sterben sollen, sondern um die schlichte Feststellung, dass sie sterben werden und dass ihr anderer Tod in Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder in den USA der Taliban nicht die Macht kosten wird, sondern sie ideologisch auch noch unterstützt: Wie es der SED zum Erhalt ihrer Macht beim Bau der Mauer als Argument diente, dass sich Fachkräfte in den Westen aufmachten, werden die Taliban behaupten, der ruinierte Zustand Afghanistans sei den Truppen Ungläubiger und den mit ihnen verbundenen Flüchtlingen als Verräter am eigenen Staat geschuldet.

Ein Leben – lang und erfüllt -, wer wünscht sich das nicht? Das ist aber kein Naturgesetz. Wenn am Ende der Corona-Eindämmungsmaßnahmen meine Mitmenschen aufatmen, dass sie endlich wieder shoppen, reisen, in Kneipen gehen können, dann kann ich mein Unverständnis über sie nur andeuten. Ich habe mir in Gesprächen so häufig den Mund verbrannt und mich als herzlos oder gefühlskalt bezeichnen lassen müssen, dass ich mich frage, ob wir uns mit den richtigen Dingen konfrontieren oder ob wir darüber hinweggehen, indem wir Gefühle und Gedanken in der gesellschaftlich akzeptierten Weise äußern, die zumindest ich bei genauerer Betrachtung gar nicht habe. Wenn ich recht hätte, würde uns unser gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten krank machen, oder?

Die öffentlichen Diskussionen gefallen mir nicht. Empörung über eine Äußerung oder ein Verhalten, das nicht genehmigt ist, wird an die Stelle inhaltlicher Auseinandersetzung gesetzt. Man stelle sich mal vor, Ingeborg Bachmann würde heute dem Menschen die Wahrheit zumuten wollen und erklären, es sei Aufgabe des Dichters, dem Menschen die Augen zu öffnen – sie würde einen „Shitstorm“ ernten, weil sie ihre Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden hielt und man einem Blinden doch nicht sagen kann, man wolle ihm die Augen öffnen. Und dann ist da die Frage: Darf man noch „Blinder“ sagen oder heißt es SehloserIn?

Ich kann nur verstummen, weil ich die Gefühle und Gedanken nicht habe, die öffentlich gefordert werden. Mir gefällt das gesellschaftlich Akzeptierte nicht. Und ganz ehrlich: Ich kann noch nicht einmal die Sprache leiden, in der ich diese akzeptierten falschen Gefühle und Gedanken auch noch kleiden soll.

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